Forschungsprojekt Vor der Fristenregelung — oder: Als Abtreibung ein Verbrechen war

Historischer Kontext und Forschungsstand


In aller Allgemeinheit lässt sich feststellen, dass über die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs jedenfalls seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern zentrale gesellschaftliche Fragen verhandelt werden, beispielsweise das Verhältnis zwischen Religion bzw. Kirche und Staat, das Verhältnis zwischen individuellen Lebensentwürfen und staatlichen Ansprüchen, die Frage, wer sich fortpflanzen durfte oder musste sowie die Normierung der Geschlechterverhältnisse. Die vielfältige Aufladung der Abtreibungsgesetze erklärt die große Emotionalität, mit der im 20. Jahrhundert gesellschaftliche Auseinandersetzungen um den Schwangerschaftsabbruch geführt wurden. Das gilt auch für Österreich: Bis zum 31. Dezember 1974 war der Schwangerschaftsabbruch laut österreichischem Strafgesetzbuch, das formal aus dem Jahr 1854 stammte, dessen Regelungen aber bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreichten, ein Verbrechen, das mit schwerem Kerker geahndet wurde. Doch auch diese hohe Strafandrohung hielt viele schwangere Frauen nicht davon ab, ihre Schwangerschaften zu beenden — oft zu Lasten ihrer Gesundheit, manchmal auch, wenn der Eingriff „schiefging“, mit Todesfolge. Das Gesetz, im Konkreten die Paragraphen 144 bis 148 StG 1852, sah keine Ausnahmen vom strengen Abtreibungsverbot vor. In der Praxis war aber eine Art Grauzone entstanden, und zwar durch eine unter Umständen angewandte allgemeine Notstandsregelung des Strafgesetzes, die besagte, dass eine Handlung dann kein Verbrechen sei, wenn sie „durch unwiderstehlichen Zwang“, in „Ausübung gerechter Notwehr“ oder in einem „Irrtum unterlief, der ein Verbrechen in der Handlung nicht erkennen ließ“ (StG 1852, §2 (g), (e)). Auf dieser unsicheren Basis wurden im Österreich des 20. Jahrhunderts vermutlich 50.000 bis 100.000 Abbrüche jährlich durchgeführt (Mesner 1994, 74f). Es gab keine klaren Regelungen darüber, welche Notsituationen einen Abbruch rechtfertigten, in den im Wiener Stadt- und Landesarchiv aufbewahrten Prozessunterlagen ist beispielsweise von „Lungenleiden“, „Nachtschweiß“, „Abmagerung“ und Suizidgefahr als möglichen Rechtfertigungen die Rede (Lehner 1989, 201). Zum gesundheitlichen Risiko kam jeweils die Drohung, in einem etwaigen Verfahren zu einer schweren Kerkerstrafe verurteilt zu werden.
In ihrer Notlage wandten sich betroffene Frauen an Bekannte, Engelmacher_innen, von denen man über Mundpropaganda hörte, an Hebammen, von denen man zu wissen glaubte, dass sie zu helfen bereit waren, oder, so sie es sich leisten konnten, an Ärzte, die Abbrüche vornahmen. Abhängigkeiten, Verleumdungen, Verdächtigungen und Denunziation waren Tür und Tor geöffnet. Vor allem wohlhabendere Frauen nutzten die Grauzone des Gesetzes: Sie suchten einen Privatarzt auf, der eine Gesundheitsgefährdung durch eine ungewollte Schwangerschaft attestierte und dann den Abbruch durchführte, in einem Krankenhaus, in einer Arztpraxis, in einem Sanatorium, mitunter auch in einer Privatwohnung. Traten nach dem Abbruch keine Komplikationen auf und erstattete niemand der Beteiligten Anzeige, kam es zu keinen behördlichen Aktivitäten. Wenn „etwas passierte“, war die Beweislage schwierig, der durchführende Arzt konnte sich mit einiger Erfolgsaussicht immer noch auf einen Irrtum zu berufen.

Um den Schwangerschaftsabbruch entstanden also Netzwerke aus Wissen um Personen und Praktiken, das — außer wenn es zum Strafprozess kam — nicht verschriftlicht in einem Schattenbereich der Gesellschaft existierte. Der lauten politischen Debatte stand, sieht man von Helmut Qualtingers böser Ballade „Die alte Engelmacherin“ (1957) und anlassbezogenen, meist reißerischen Zeitungsartikeln, wenn das Abtreibungsverbot ein Todesopfer gefordert hatte, weitgehendes Schweigen über jene Schicksale, Praktiken und Netzwerke gegenüber, die das politisch umkämpfte Abtreibungsverbot entstehen ließ.
Diese Diskrepanz spiegelt sich in der historischen Forschung: Während die politische Auseinandersetzung bereits gut dokumentiert ist (aus Platzmangel seien hier nur Lehner 1989 und Mesner 1994 genannt) , gibt es abgesehen von zwei filmischen Zeugnissen (Riegler 2012, Wollner 2016) und einem medizingeschichtlich orientierten und wissenschaftlich nicht ausreichend fundierten Privatmuseum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch (1150, Mariahilfer Gürtel 37) keine Explorationen in die Zone des lebensweltlichen Schweigens, in der allerdings rege Aktivität geherrscht haben muss. Diese Lücke möchte das gegenständliche Forschungsprojekt ausleuchten und verkleinern.
Projektziele / Forschungsinteresse / Wienbezug
Am 1. Jänner 2025 wird es 50 Jahre her sein, dass die Fristenregelung, die diesen problematischen und folgenschweren Zustand um Schwangerschaftsabbrüche beendete, in Kraft trat. Dieses Projekt unternimmt es, über zwei verschiedene Zugänge die Grauzone um den Schwangerschaftsabbruch zu explorieren: einmal über die im Wiener Stadt- und Landesarchiv befindlichen Akten der Strafgerichte I und II, zum anderen mittels Zeitzeug_innen-Interviews. Dabei wird die Wiener Situation im Zentrum des Interesses stehen: Es ist davon auszugehen, dass Netzwerke und Kommunikationsflüsse im urbanen Bereich deutlich vom ländlichen differierten, die daher in einem eigenen Projekt untersucht werden müssen und hier nicht Gegenstand sein können. Bisher gibt es in Bezug auf Österreich insgesamt, aber auch in Bezug auf Wien keine wissenschaftlichen Arbeiten zu jenen Praktiken und Wissensbeständen, Schicksalen und Zwangslagen, die das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs schuf. In den vollständig erhaltenen Prozessakten finden sich zuallererst die Spuren von Behördenhandeln, durch diese — von staatlicher Macht geprägte — Linse kommen aber auch lebensweltliche Aspekte der in den Prozessen Angeklagten und der Zeugen und Zeuginnen in den Blick, die es mit quellenkritischen Methoden gilt, zu rekonstruieren. Durch die Bildung von Stichproben wird es erstmals auch möglich sein, einen quellenbasierten quantitativen Überblick über die tatsächlich verhandelten Fälle zu geben, den sozialen Status der Angeklagten und die verhängten Urteile. In der politischen Debatte häufig auftauchende Topoi (der „Klassencharakter“ der Abtreibungsgesetze, die junge verführte Frau als häufiges Opfer) werden so überprüfbar. Die Ergebnisse dieser Analyse können aber auch herangezogen werden für die in einem zweiten Forschungsstrang thematisierten Fallbeispiele: Um nicht nur eine durch staatliches Handeln geprägte Perspektive einzufangen, werden Interviews mit in der Grauzone Agierenden gemacht: mit ungewollt schwangeren Frauen, mit Personen, die die Abbrüche durchführten, Ärzten (vielleicht auch wenigen Ärztinnen, worüber bisher nichts bekannt ist), Hebammen, hilfsbereiten Nachbarinnen, politischen Aktivistinnen, die Netzwerke organisierten, durch die betroffene Frauen an einen hilfsbereiten Arzt vermittelt wurden, Personen, die sonst Wissen um die lebensweltliche Grauzone um den Schwangerschaftsabbruch hatten. Geplant sind ca. 25 Interviews. Die Auswahl wird so erfolgen, dass die verschiedenen beteiligten Personengruppen abgebildet werden. Ausgewertet werden die Interviews mithilfe von Oral-History-Methoden (Robertson 2006).

Interviewaufruf zum Forschungsprojekt „50 Jahre Fristenregelung“


Mit 1. Jänner 1975, also vor knapp 50 Jahren, wurde der Schwangerschaftsabbruch in Österreich innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate straffrei gestellt. Bis dahin riskierten Menschen, die Abtreibungen durchführen ließen oder durchführten, die eigene Gesundheit und mitunter hohe Gefängnisstrafen.

Die Erfahrungen rund um Abtreibung vor der Aufhebung des Verbots wurden aus Furcht kaum weitergegeben, selten erzählt und schon gar nicht aufgeschrieben. Das heißt, das Wissen um die Praktiken, die sozialen Netzwerke, die Schwierigkeiten, die tragischen Lebenssituationen, die das Abtreibungsverbot mit sich brachte, werden bald verloren und vergessen sein.

Das soll dieses Interviewprojekt anlässlich des 50. Jahrestages der Einführung der Fristenregelung verhindern. Wir möchten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, die bereit sind, über ihre Erfahrungen zu sprechen, um ein Interview bitten: Es geht darum, diese Erfahrungen für nachfolgende Generationen zu bewahren und das Wissen darüber weiterzugeben, wie sich das Abtreibungsverbot auf das Leben von vielen Menschen, auf ihre Perspektiven, ihre Handlungsräume und Lebenschancen auswirken konnte und auswirkte.

Unsere Bitte:
Wir sind auf der Suche nach Interviewpartnerinnen und -partnern für unser Forschungsprojekt. Wenn Sie Ihre Erinnerungen und Ihr Wissen zum Thema Schwangerschaftsabbruch als verbotene Praxis mit uns teilen wollen, bitten wir Sie um Kontaktaufnahme. Die Interviews werden nur zu Dokumentationszwecken aufgezeichnet, selbstverständlich werden Namen und persönliche Angaben anonymisiert. Sie können Ihr Interview auch gern für jegliche Einsichtnahme sperren lassen.

Sollten Sie zu einem Interview bereit sein oder noch Fragen haben, wenden Sie sich bitte an:

Mag. Maria Steiner
Kreisky Archiv
Rechte Wienzeile 97
1050 Wien
Tel.: 01 5457535/30
steiner@kreisky.org

Über eine Kontaktaufnahme Ihrerseits würden uns sehr freuen. Wir sind bei unserem Versuch, Wissen darüber zu bewahren, was es bedeutet, wenn Abtreibung verboten ist, auf Ihre Hilfe angewiesen.
Bitte geben Sie diesen Aufruf auch gerne an Personen weiter, die möglicherweise für ein Interview in Frage kommen.

Das Forschungsprojekt wird von der MA 7 finanziert.

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